Wie wurde die "Spanische Grippe" enträtselt?

Die Ursache für die Pandemie die im Frühjahr 1918 begann, war lange nicht bekannt. Es gab Vermutungen, dass es sich um Cholera, Typhus oder das Denguefieber handeln könnte. Die Erkrankung wurde jedoch, obwohl sie sich deutlich von der saisonalen Grippe unterschied, bald als Influenza bezeichnet. Den Begriff Influenza sollen Italiener im achtzehnten Jahrhundert geprägt haben. Sie bezeichneten so eine Erkrankung, die jedes Jahr zum Winterbeginn auftauchte. Sie glaubten, die Kälte sei Schuld an den Ausbrüchen.[1]

Bereits 1919 veröffentlichte J.S. Koen, ein Tierarzt und Kontrolleur des “U.S Bureau of Animal Industry” in Iowa, eine Forschung die darauf hindeutete, dass “Nutztiere” eine Rolle in der Pandemie spielten. Während der zweiten Welle im Herbst 1918, hatte er eine Erkrankung bei Schweinen beobachtet, die der unter den Menschen wütenden Erkrankung glich.[2] Die Ähnlichkeit der Epidemie unter Menschen mit der Epidemie unter Schweinen war sehr stark und die Berichte darüber sehr häufig. Ein Ausbruch in einer Bauernfamilie war direkt gefolgt von einem Ausbruch unter ihren Schweinen und umgekehrt. Beides sah für ihn aus wie Grippe.

“Es sah aus wie die “Grippe” und bis zum Beweis, dass es nicht die “Grippe” war, bleibe ich bei dieser Diagnose.” J.S. Koen

Diese Sichtweise war äußerst unpopulär. Besonders Schweinebauern befürchteten, dass Verbraucher durch solch eine Assoziation vom Verzehr von Schweinefleisch abgeschreckt werden könnten.

Zehn Jahre später bewiesen Forscher, dass sich Schweine untereinander mit Grippe anstecken können. 1923 zeigte Richard Shope (ein amerikanischer Virologe), dass Menschen, die die Pandemie 1918/1919 miterlebt hatten, Antikörper gegen dieses “Schweine”-Virus hatten. Nach 1920 geborene hatten diese Antikörper nicht. 1928 steckten sich zufällig in Großbritannien Frettchen bei einem Forscher an, der an Grippe erkrankt war. Den Forschenden gelang es daraufhin, gezielt gesunde Frettchen mit dem Sekret des erkrankten Forschers zu infizieren. Die Tiere erkrankten mit denselben Symptomen. Dies war der erste Beweis, dass ein Virus die menschliche Influenza verursachte und dass es artübergreifend sein könnte.[3] 1933 isolierte und identifizierte schließlich ein britisches Forschungsteam das Virus, das die typische saisonale Grippe verursacht. Die Ursache für die menschliche Influenza war somit gefunden.[4] Doch woher das Grippevirus von 1918 kam und warum es so tödlich war, blieb ein Rätsel.

Mitte der 1990er Jahre, mittlerweile gab es neue Untersuchungsmethoden, startete der amerikanische Virologe und Pathologe Jeffery K. Taubenberger im “Armed Forces Institute of Pathology (U.S.)” seine Nachforschungen nach dem Virus. Dieses "Institut für Pathologie der Streitkräfte" war mehr als 150 Jahre zuvor während des Bürgerkrieges errichtet worden, um Erkrankungen auf dem Schlachtfeld zu untersuchen. Dort lagerten zig Millionen Stücke konserviertes menschliches Gewebe, die weltweit größte Sammlung dieser Art. Taubenberger war dort Leiter der Abteilung für Molekulare Pathologie. Er suchte im Institut nach Gewebeproben und fand die Überreste zweier Soldaten, die im September 1918 an der "Spanischen Grippe" gestorben waren. Er untersuchte mit seinem Team die kleinen Reste des im Wachs erhaltenen Lungengewebes. Dank der neuesten Fortschritte der modernen Molekularbiologie fanden sie das Virus tatsächlich, allerdings nur winzige Teilstücke des genetischen Materials. Sie brauchten mehr Gewebe. Obwohl das Virus während der Pandemie rund um die Welt zig Millionen Menschenleben forderte, standen sie vor einem Problem: Es hatte zu Zeiten der Pandemie noch keine Kühlung gegeben, mit deren Hilfe genug Gewebe hätte erhalten werden können. Expeditionen wurden gestartet, um unter dem arktischen Eis nach Opfern der Grippepandemie zu suchen. Sie brauchten Körper, die unter einer Permafrost-Schicht begraben lagen und selbst im Sommer nicht auftauten. Viele Versuche, darunter ein akademisches Team mit zwölf Tonnen an Ausrüstung und Jahren der Planung und Forschung, waren vergeblich.[5][6] Selbst in einem Massengrab in Alaska konnten nur noch Skelette gefunden werden.

Etwa fünfzig Jahre zuvor, hatte der schwedische Student Johan Hultin als Teil eines wissenschaftlichen Teams der University of Iowa schon eine ähnliche Reise nach Alaska unternommen. Die Reise hatte sie nach Brevig (Alaska) geführt. Der Hintergrund der Reise: Im Herbst 1918 brachte ein Postbote auf seinem Hundeschlitten neben der Post auch das Pandemie-Virus mit in die dortige Missionsstation. Innerhalb von fünf Tagen starben zweiundsiebzig der etwa achtzig Einwohner. Die übrigen acht begruben, mithilfe von Soldaten eines nahegelegenen Armeestützpunktes, die Toten in einem Massengrab. Während in Europa und in den USA zwei bis fünf Prozent der Erkrankten starben, waren es in einigen isoliert lebenden einheimischen Gruppen über fünfzig Prozent. Einige Dörfer in Alaska wurden durch die Pandemie regelrecht ausgelöscht.
Mit der Erlaubnis der Dorfältesten, begannen Hultin und sein Team 1951 zu graben. Sie wurden fündig und entnahmen Lungengewebe von mehreren Personen. Versuche das Virus in Hühnereiern zu vermehren missglückten jedoch. Er war nicht in der Lage, das Virus von 1918 wiederherzustellen.

1997 erfuhr Johan Hultin aus einem von Taubenberger veröffentlichten Bericht, dass dieser bessere Gewebeproben benötigte. Er kehrte, wenige Wochen vor seinem dreiundsiebzigsten Geburtstag, nach Brevig zurück. Diesmal ganz alleine, auf eigene Kosten. Mit einer Spitzhacke, wie ein Kollege später berichtete. Der Kollege erzählte weiter: „Er hat in drei Tagen eine Grube durch festes Eis gegraben. Dieser Typ ist unglaublich. Es war einfach fantastisch.“ Laut einer anderen Quelle grub Hultin mit der Hilfe einer lokalen Crew - auch das wäre immer noch eine beachtliche Leistung. Diesmal fand Hultin zwischen den vielen Skeletten der Missionsstation den Körper einer jungen Inuit-Frau. Durch das starke Übergewicht dieser Frau waren die inneren Organe isoliert gewesen und erstaunlich gut erhalten. Hultin gab der jungen Frau den Namen Lucy. Ihm war klar, dass das Virus hier zu finden sein musste und Licht ins Dunkel bringen könnte.

Ein paar Tage später erhielt Taubenberger eine Box mit der Post. Sie enthielt beide Lungenflügel von Lucy. Darin fand er tatsächlich das gesamte Genom des Virus von 1918 - allerdings in kleine Einzelteile zerfallen. Die Rekonstruktion des Virus dauerte 8 Jahre.[7] Im Oktober 2005 waren die Untersuchungen abgeschlossen und Taubenberger veröffentlichte die Antwort auf die Frage, die Forscher weltweit über Jahrzehnte beschäftigt hatte: Eine der tödlichsten Seuchen der Menschheit war durch ein Vogelgrippevirus des Typs H1N1 ausgelöst worden.[8]

I had a little bird,
Its name was Enza.
I opened the window,
And in-flu-enza.

Zu diesem Reim sprangen Kinder während der "Spanischen Grippe" 1918 Seil.[9] Möglicherweise war dieser kleine Reim vorausschauender, als man damals ahnte.

Mittlerweile legen Nachweise nahe, dass alle pandemischen Influenzaviren (die Menschen und andere Säugetiere betreffen) ihren Ursprung in der Vogelgrippe haben.[10]

Was machte das Virus von 1918 so tödlich?

Gemeinsam mit weiteren Forschungsgruppen und einer neuen Methode, der sogenannten Umkehrgenetik, gelang es, das Virus wieder “zum Leben zu erwecken”. Mäuse wurden mit dem Virus infiziert. Es stellte sich, wie schon während der Pandemie 1918, als besonders gefährlich heraus: Alle Mäuse starben innerhalb von 6 Tagen. Verglichen mit einem Virusstamm der saisonalen Grippe generierte das Virus vier Tage nach der Infektion 39.000 mal mehr Viruspartikel in den Lungen der Tiere.
Auf der einen Seite wurde dieses Experiment als großer Durchbruch gefeiert. Auf der anderen Seite stellte es eine große Gefahr dar und wurde von einigen Wissenschaftlern dementsprechend scharf kritisiert. Denn es war nur ein Labor mit der biologischen Sicherheitsstufe 3 genutzt worden, nicht der sichersten Stufe 4.[11]

In weiteren Experimenten wurden befruchtete Hühnereier mit dem Virus von 1918 geimpft. Es war, genau wie aktuelle H1N1-Vogelgrippeviren, für die Embryos tödlich. Vergleichende Versuche mit menschlichen saisonalen Grippeviren (A/H1N1) hatten diese Wirkung nicht. Die Untersuchungen zeigten darüberhinaus, dass nicht eine einzelne Komponente des Virus für die außergewöhnliche Tödlichkeit verantwortlich war. Es war die spezielle Kombination aller acht Gene zusammen, die es so gefährlich machten.[12]

Wie gefährlich können Influenzaviren für uns Menschen werden?

Woher kommt eigentlich die Grippe?

Wie gelingt einem Vogelgrippevirus der Sprung auf den Menschen?

Was geschah nach der Pandemie von 1918 mit dem Virus?


Quellen:

Das Buch "How to Survive a Pandemic" von Dr. Michael Greger ist Ausgangspunkt und wichtigste Quelle für den gesamten Abschnitt.


  1. Vogelgrippe : Der Sprung auf den Menschen. Peter-Philipp Schmitt; 2005 (faz) ↩︎

  2. The Origin and Virulence of the 1918 “Spanish” Influenza Virus. Jeffery K. Taubenberger / PubMed; 2006 ↩︎

  3. An Avian Connection as a Catalyst to the 1918-1919 Influenza Pandemic. James E. Hollenbeck - International Journal of Medical Science; 05.2005 (PMC) ↩︎

  4. A VIRUS OBTAINED FROM INFLUENZA PATIENTS. Wilson Smith M.D. MANCH. C.H., Andrewes M.D. LOND., P.P .Laidlaw B.CHIR. CAMB., F.R.S. From the National Institute for Medical Research, Farm Laboratories, Mill Hill, United Kingdom - The Lancet; 08.07.1933 (ScienceDirect) ↩︎

  5. Quest for Frozen Pandemic Virus Yields Mixed Results. John Noble Wilford, 09.1998 (The New York Times) ↩︎

  6. The devil's flu. Henry Holt and Company; 2000 (Buch) ↩︎

  7. Resurrecting 1918 Flu Virus Took Many Turns. David Brown; 10.10.2005 (The Washington Post) ↩︎

  8. The Origin and Virulence of the 1918 “Spanish” Influenza Virus. Jeffery K. Taubenberger / PubMed; 2006 ↩︎

  9. Influenza Pandemic. University Libraries (University of Washington) ↩︎

  10. Infectious Disease 2nd edition (September 22, 2003) by Jonathan Cohen, William Powderly By Mosby (PDF) ↩︎

  11. The 1918 flu virus is resurrected. Nature; 2005 (PMC) ↩︎

  12. The Deadliest Flu: The Complete Story of the Discovery and Reconstruction of the 1918 Pandemic Virus. Douglas Jordan / Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Immunization and Respiratory Diseases (NCIRD); 2019 (CDC) ↩︎